Public Viewing „Fear“

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Es war Freitagnachmittag, die Schule war vorbei, und das Wochenende begann mit einem Highlight: Public Viewing im Jugendzentrum. Deutschland gegen Türkei – auf Leinwand, mit Snacks , Cola und Bier, halb Schule, halb Kiez. Der Raum war voll.
Auch Sebastian ging dort hin. Sebastian war siebzehn Jahre alt, ein eher ruhiger Typ, nicht unbeliebt, aber auch nicht übermäßig populär und kontaktfreudig, sondern aufgrund seiner Unsicherheit und Schüchternheit eher zurückhaltend und unauffällig. Er hatte länger geschwankt, ob er überhaupt hingehen wollte, da ihn Fußball eigentlich nicht sonderlich interessierte. Aber das Gefühl, zunehmend zum Außenseiter zu werden, machte ihm zu schaffen, er wollte endlich dazugehören. Und da ihm Nationalismus vollkommen fremd war, würde er auch kein Problem damit haben, sich über Tore für die Türkei zu freuen.
Zudem wollte er seinen neuen ganzen Stolz vorführen: brandneue Nike Air Jordan 4 “Fear”, grau-schwarz mit weißen Akzenten. Nachdem Sebastian einen jungen Mann in der Straßenbahn gesehen hatte, der genau diese Schuhe an den Füßen gehabt und dabei so verdammt gut ausgesehen hatte, stand für ihn fest: diese Schuhe gehörten auch an seine Füße. Er hatte ewig dafür gespart, jeden Cent umgedreht, um ein Gebot bei StockX abgeben zu können. Und dann, vor rund zwei Wochen, endlich hatte jemand sein Gebot angenommen, mit Gebühren beinahe vierhundert Euro, aber egal. Jetzt waren sie da, an seinen Füßen – und es fühlte sich so gut an. Er trug sie natürlich genauso, wie man 4er Jordans trägt, lockere Schnürsenkel, die seitlich heraushingen. Bereits auf dem Weg ins Jugendzentrum hatte er gemerkt, dass andere Jugendliche auf seine Füße schauten, und es hatte sich so gut angefühlt.

Er betrat den Raum, wo ihn Ali, ein Mitschüler aus seiner Stufe, entdeckte.
„Ey, guck mal!“, rief Ali quer durch den Raum und tippte Mehmet an. „Was trägt denn Sebastian da? Jordans?!“
Mehmet hob sofort den Kopf, scannte Sebastians Schuhe. „Bro! Die ‘Fear’-Edition! Krass. Sind die neu?“
Sebastian zuckte mit den Schultern, versuchte locker zu wirken. „Jo. Grad angekommen. Von StockX direkt aus Japan.“
„Sind die wirklich echt?“ fragte Ali, direkt, ohne Umschweife. Sein Ton war halb interessiert, halb provozierend.
„Ja, klar“, sagte Sebastian. „Von StockX geprüft.“
„Zieh mal aus“, forderte Mehmet. „Lass mal kurz abchecken.“
„Nee, Mann“, sagte Sebastian sofort und wich einen Schritt zurück. „Ich zieh doch hier jetzt nicht die Schuhe aus.“
Ali grinste leicht. „Warum denn nicht? Wenn sie echt sind, kannst du sie doch zeigen.“
„Muss nicht sein“, sagte Sebastian. „Ich hab keinen Bock, meine Schuhe hier mitten im Raum auszuziehen. Was soll das?“
„Ey, chill doch. Wir wollen die nur sehen“, sagte Mehmet, kam näher. „Nein!“ sagte Sebastian lauter. „Ich zieh die nicht aus. Ende.“
Es war für Sebastian unvorstellbar, seine geliebten neuen Jordans auszuziehen, auf die er sich so gefreut hatte. Er wollte mit diesen Sneakern cool rüberkommen und respektiert und akzeptiert werden, aber in Socken dazustehen, würde sein Image bestimmt nicht verbessern.
Doch plötzlich spürte er von hinten Hände an seinen Schultern. Tarek und Ilhan – auch aus der Schule, keine Freunde, aber immer irgendwie immer da, wenn was passierte
– hatten sich hinter ihn geschoben. Nicht brutal, aber bestimmt. Sie hielten ihn eisern fest.
„Ey, lasst das! Was macht ihr?!“ rief Sebastian und versuchte, sich loszureißen, aber die beiden hielten ihn viel zu fest im Griff. Nicht grob, aber stark genug, dass er nicht wegkam.
Von vorne gingen Mehmet und Ali auf Sebastian zu – sie hatten es sichtlich auf seine Füße abgesehen. Sebastian trat mit den Füßen nach vorn, strampelte mit den Beinen, suchte nach Halt, versuchte, die Schuhe mit den Zehen zu verankern. Doch Mehmet kniete sich bereits hin, packte sein rechtes Fußgelenk, Ali griff sich das linke.
„Jungs, bitte, hört jetzt auf! Ich mein’s ernst!“ Sebastian strampelte, stemmte sich gegen den Griff, doch gegen vier Hände hatte er keine Chance.
„Bruder, halt still. Wird nicht weh tun“, lachte Ali – dann zogen beide gleichzeitig.
Sebastians Bemühungen, sich mit den Zehen in den Basketballschuhen zu verankern, waren vergeblich. Er merkte verzweifelt, wie ihm die Schuhe von den Füßen glitten. Schlurf. Schlurf. Erst der linke Schuh, dann der rechte – weg. Die locker geschnürtenBasketballschuhe glitten viel zu leicht von seinen Füßen.
Sebastian stand plötzlich auf seinen weißen Socken da, gefühlt nackt. Rot im Gesicht, um ihn herum Gelächter, halb Aufmerksamkeit, halb Gleichgültigkeit. Sebastian versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihm die Situation war. Er grinste verlegen und schaute Ali vorwurfsvoll an.
Ali hielt den linken Jordan in der Hand, drehte ihn langsam, inspizierte ihn mit prüfendem Blick. „Boah. Die sind echt. Kein Fake. Kranke Qualität.“
Dann runzelte er die Stirn, warf einen Blick ins Innere des Schuhs. „Größe 43?“ Mehmet grinste. „Du hast doch auch 43, oder?“
Ali nickte. Dann sah er zu Sebastian, der gerade nach vorn trat, um die Schuhe zurückzuholen.
„Ey, du hast doch nix dagegen, wenn ich die mal kurz anprobier, oder?“ fragte Ali – grinsend, aber mit einem Unterton, der keine echte Wahl ließ.
„Doch, hab ich! Gib mir meine Jordans zurück!“, sagte Sebastian, jetzt deutlich wütend, streckte die Hand aus. Doch Ali trat einfach einen Schritt zur Seite, hob beide Schuhe demonstrativ hoch.
„Nur kurz. Chill. Ich will nur wissen, wie die sich anfühlen“, sagte er.
Und ehe Sebastian reagieren konnte, hatte Ali schon beide Jordans an. Er stand auf, bewegte sich im Raum, wippte auf den Sohlen.
„Boah, Bruder… die passen mir perfekt.“
Sebastian stand regungslos da. Um ihn herum lachten ein paar Jungs. Andere taten so, als würden sie es nicht mitbekommen. „Stehen dir voll gut“, meinte Mehmet. „Besser als dem Opfer hier.“
Für ein paar Sekunden war da nur dieses unangenehme Schweigen. Sebastian hatte schreckliche Angst. Ali würde die Schuhe doch nicht einfach behalten, oder? Sie waren nagelneu, aber was hätte er schon machen können? Dann zog Ali die Schuhe aus und zog sich wieder seine eigenen Nike Shox an, ließ die Jordans auf den Boden fallen und kickte sie Richtung Sebastian – achtlos, fast schon respektlos.
„Danke für die Leihgabe, Digga“, sagte er, setzte sich wieder hin, als wäre nichts gewesen.
Sebastian bückte sich, zog die Jordans wieder an. Seine Hände zitterten leicht. Normalerweise hätte er das genossen – das satte Plopp, wenn der Schuh seine Ferse umschloss, das Gefühl von festem Sitz, die Blicke der anderen. Aber diesmal fühlte es sich anders an. Falsch. Die Schuhe waren noch immer neuwertig, makellos. Und trotzdem – irgendetwas daran war verschwunden. Vielleicht der Stolz. Vielleicht das Gefühl, dass sie wirklich ihm gehörten.
Und während auf der Leinwand gerade der Anpfiff lief, war für ihn der Abend schon vorbei.
Er überlegte kurz, einfach abzuhauen.
Einfach aufstehen, leise verschwinden, ohne eine Szene. Aber sein Blick streifte den Raum – Ali, der auf dem Sofa hing, Mehmet, der Chips aus der Tüte schaufelte, Ilhan und Tarek, die miteinander diskutierten. Niemand sagte etwas zu ihm. Doch er spürte die Blicke. Auf seine Schuhe.
Er wusste: Wenn er jetzt ging, wäre das wie eine Flucht. Es wäre ein Eingeständnis, das Opfer zu sein, das nicht dazugehörte. Er würde seine Jordans niemals wieder ohne Angst und mit Stolz tragen können.
Und genau das wollten sie.
Er setzte sich stattdessen auf einen Hocker am Rand, versuchte, sich aufs Spiel zu konzentrieren, obwohl seine Gedanken anderswo waren. Die Türkei hatte fast ein Tor geschossen, irgendwo im Hintergrund lief Gelächter, aber er hörte es nur gedämpft. Als würde er unter Wasser sitzen. Er hatte einen Fuß auf sein Knie gelegt, aber als er die Blicke der anderen Jungs auf seine Schuhe sah, nahm er ihn wieder runter und versteckte seine Füße unter dem Tisch. Aus den Augen, aus dem Sinn – so hoffte Sebastian.
Dann: der Halbzeitpfiff. Bewegung. Gespräche. Rufen.
„Ey, Bier ist leer!“ rief Ali.
Mehmet riss die Kühlschranktür auf. „Nix mehr da. Gar nix.“
Ilhan grinste. „Tanke ist doch eh direkt die Straße runter.“
Und dann, fast zu beiläufig, kam es von Ali:
„Ey, Sebastian. Mach mal ne Runde, hol Bier, ja? Helles. Vier Dosen. Und zwei Cola.“ Sebastian hob den Kopf. Kurz, verunsichert.
Mehmet tat, als wolle er helfen, zog einen Zehner aus der Hosentasche, warf ihn auf den Tisch.
„Hier, reicht locker.“
Sebastian wollte schon aufstehen, da sagte Ilhan mit einem schiefen Grinsen:
„Oder warte mal… eigentlich kannst du das doch easy selbst zahlen, oder? Ich mein, wer Jordans für vierhundert Euro trägt…“
Die anderen lachten leise.
„Ja, Mann“, sagte Ali. „Wer so Schuhe rockt, kann sich wohl auch n paar Bier leisten.“
„Ist doch nix für dich. Zwei Dosen kosten weniger als die Schnürsenkel von deinen Dingern“, meinte Mehmet und alle grinsten.
Sebastian schwieg.
Er sah den Zehner auf dem Tisch. Dann sah er seine Schuhe. Kurz überlegte er, zu widersprechen – zu sagen: Ich hab monatelang dafür gespart, ihr habt keine Ahnung, wie lang ich gebraucht hab…Aber er sagte nichts.
Langsam stand er auf. Ließ den Zehner auf dem Tisch liegen.
„Passt schon“, murmelte er. „Ich hol’s.“
Keiner bedankte sich. Es war, als hätte er genau das gemacht, was man von ihm erwartet hatte. Als wäre das selbstverständlich.
Er ging zur Tür, seine Schritte hallten über den Flur des Jugendzentrums. Draußen war es kühl, die Straßenlaternen warfen langgezogene Schatten. Mit jedem Schritt spürte er die Jordans an seinen Füßen – und je länger er ging, desto schwerer fühlten sie sich an.
So hatte er sich das nicht vorgestellt.
Sebastian hatte gerade den ersten Schritt Richtung Tür gemacht, da rief Ali hinter ihm:
„Ey, warte mal kurz!“
Sebastian blieb stehen, drehte sich halb um. Ali stand auf, die Hände in den Taschen, mit diesem gespielten Nachdenklichkeits -Gesicht, das er immer aufsetzte, wenn er gleich etwas sagen wollte, das eigentlich ein Befehl war.
„Nur mal so – nichts gegen dich, aber… was ist, wenn du einfach nicht wiederkommst?“
Ein paar der Jungs grinsten. Mehmet hob grinsend eine Braue. Sebastian schluckte, er hatte tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, den Abend zu beenden und einfach nachhause zu gehen.
„Echt jetzt“, sagte Ilhan. „Könntest easy einfach das Biergeld nehmen und abziehen.“
„Oder chillst einfach da draußen mit deinen Jordans, bisschen Bier und Sonnenuntergang“, lachte Mehmet.
„Ich zahl das doch selbst“, sagte Sebastian. „Warum sollte ich abhauen?“
„Klar, klar“, sagte Ali. „Aber man weiß ja nie, und wenn du nicht zurückkommst, sitzen wie auf dem Trockenen.“
Dann sagte Tarek trocken: „Er kann doch was hierlassen. So als Pfand.“
Mehmet stieß ein keckerndes Lachen aus. „Safe. Einen von den Jordans. Dann wissen wir, dass er wiederkommt.“
Die Gruppe lachte. Nicht bösartig, aber mit dieser Energie, die einem zeigt, dass der Witz nicht zum Mitlachen gedacht war – sondern auf Sebastian abzielte.
Sebastian stockte. Er starrte Ali an. Dann auf den Boden. Dann auf seine Schuhe. Einen Schuh dalassen?
„Das ist nicht euer Ernst, oder?“ Seine Stimme war leiser als beabsichtigt. Er setzte ein verlegenes Grinsen auf – versuchte das als Spaß zu verstehen.
Niemand antwortete direkt. Aber alle sahen ihn an. Schauten auf seine Füße – erwartungsvoll. Und irgendwie… gespannt. Mehmet verdeutlichte dann die Situation. „Na los. Runter mit einem Sneaker, aber ein bisschen flott. Oder sollen wir nachhelfen? Die Halbzeitpause geht nicht ewig.“
In Sebastian breitete sich ein flaues Gefühl aus. Erst Scham, dann so etwas wie Angst. Denn er wusste: Wenn er jetzt Nein sagte, würden sie ihn nicht einfach gehen lassen. Sie würden ihn wieder festhalten. Wieder runterdrücken. Und ihm den Schuh so oder so ausziehen – vor allen. Mit Gelächter, mit Witzen, mit dieser kalten, herablassenden Leichtigkeit, die noch viel schlimmer war als Gewalt.
Und dann würde jeder sehen, wie schwach er wirklich war.
Also blieb ihm nur eines:Er musste nachgeben, vermeintlich freiwillig einen seiner Schuhe hergeben. So tun, als wäre es seine Entscheidung.
Langsam, mit gesenktem Blick, hob er den linken Fuß, und streifte den Jordan von seinem Fuß.
Er stellte den Schuh neben den Couchtisch, grinste dabei, und versuchte sich nicht anzumerken, wie demütigend er die Situation fand.
Das Zimmer war plötzlich still. Nicht unangenehm still – eher erwartungsvoll. Als wäre das gerade ein unausgesprochenes Ritual gewesen, das alle verstanden – außer ihm.
Sebastian stand nun mit einem Schuh und einer weißen Sportsocke auf dem kalten Fliesenboden.
Dann fragte er leise: „Soll ich jetzt echt… so zur Tanke laufen? Mit einem Schuh?“ Sebastian hoffte insgeheim noch immer, dass sie alle in Gelächter ausbrechen würden und ihm sagten, sie hätten ihn nur verarscht – er dürfte den Schuh natürlich wieder anziehen.
Doch diese erhoffte Reaktion blieb aus.
Dann lachte Mehmet laut los. „Bruder, willst du im Rollstuhl fahren? Klar läufst du so!“
Ilhan kicherte. „Sieht eh keiner. Ist ja schon dunkel draußen.“
Ali grinste nur. „Vertrau uns. So wissen wir, dass du bald wiederkommst. Und wir passen hier schon auf deinen Jordan auf.“
Das Lachen hallte noch nach, als Sebastian wortlos zur Tür ging, mit einem Jordan an einem Fuß, und einer dünnen Socke am anderen. Jeder Schritt fühlte sich irgendwie falsch an.
Und während ihm draußen die kühle Abendluft entgegenschlug und der Asphalt durch die dünne Sohle seiner Socke drückte, hatte er das Gefühl, dass sich etwas in ihm langsam verschob.
Er hatte gehofft, mit diesen Schuhen anders zu wirken. Stärker. Cooler. Jetzt wusste er: Die Jordans hatten ihn sozial nicht stärker gemacht. Sie hatten ihn vielmehr angreifbar gemacht. In den Augen der anderen Jungs war er es einfach nicht wert, solche Sneaker zu tragen.
Und doch ging er weiter – humpelnd, schweigend, mit dem einen Schuh, den anderen zurückgelassen bei den Jungs. Als Pfand. Oder als Symbol.
Vielleicht war das dasselbe.
Der Weg zur Tanke war nicht weit. Fünf, vielleicht sieben Minuten, wenn man normal lief.
Sebastian lief nicht normal.
Sein linker Fuß steckte in seinem Jordan 4 „Fear“ – gedämpft, sicher, hochwertig. Der
rechte… war bloß eine weiße Socke auf Asphalt. Der kalte Beton kroch von unten in seine Fußsohle durch das dünne Stoffgewebe hindurch.
Er humpelte leicht, versuchte, mit dem beschuhten Fuß möglichst oft aufzutreten.
Aber dadurch sah es noch bescheuerter aus.
Er lief mit gesenktem Kopf. Immer wieder hob er den Blick, suchte nach Gesichtern – Passanten, Radfahrer, Jugendliche. Menschen, die ihn sehen konnten. Die vielleicht lachten. Oder nur schauten.
Niemand sagte etwas. Niemand sprach ihn an. Aber das machte es nicht besser.
An der Tankstelle angekommen, trat er durch die automatische Tür. Ping.
Das Licht war grell. Steril. Drinnen standen zwei Männer an der Kasse, vielleicht Anfang zwanzig, mit Bierkisten unter den Armen. Sie warfen ihm nur einen flüchtigen Blick zu – dann aber sahen sie auf seine Füße.
Linker Fuß: Nike Jordan. Rechter Fuß: dreckige weiße Socke.
Der eine grinste leicht, drehte sich wieder zur Kasse. Kein Wort. Aber Sebastian spürte die Hitze in seinem Gesicht.
Er ging langsam durch die Gänge. Nahm vier Dosen Helles aus dem Kühlschrank. Eine Cola. Noch eine. Beim Umdrehen rutschte er fast aus – seine Socke hatte Feuchtigkeit vom Boden aufgenommen. Er fing sich im letzten Moment, sah sich hastig um. Niemand hatte es gesehen. Oder sie taten so.
An der Kasse stand jetzt nur noch der Kassierer – ein älterer Mann mit grauem Bart und Lesebrille. Er blickte kurz auf Sebastians Füße, dann auf die Bierdosen.
„Ausweis bitte“, sagte er.
Sebastian reichte ihm den Schülerausweis. Der Mann sah kurz hin, nickte, tippte den Preis ein.
„9 Euro achtzig.“
Sebastian zog den Zehner aus der Hosentasche, reichte ihn hin. Wechselgeld klimperte in die Hand.
„Ist das ein neuer Style?“ fragte der Kassierer trocken, ohne zu grinsen.
Sebastian sah ihn irritiert an.
„Ein Schuh, einer nicht. Gibt’s da ‘ne Challenge bei TikTok oder so?“
Als er das Jugendzentrum wieder betrat, brandete ihm Gelächter entgegen.
„Da isser! Unser Lieferbote!“ rief Ali, als hätte Sebastian einen Weltrekord gebrochen.
„Mit nur einem Schuh zurück – Legende!“
Sebastian sagte nichts. Er humpelte durch den Raum, versuchte das Gesicht zu wahren, und stellte die Tüte mit den Getränken auf den Tisch.
Dann blickte er automatisch dorthin, wo er den Jordan abgestellt hatte – neben dem Couchtisch, direkt links von der Sitzgruppe.
Er war weg.
Sebastian blinzelte. Schaute sich um. Vielleicht war er nur verrutscht? Unter den Tisch gerollt?
Aber da war nichts.
Er sah zu den Jungs. Die hatten ihn längst beobachtet. Ali lehnte entspannt auf dem Sofa, Mehmet lutschte an einem Flaschenhals, Ilhan stocherte mit einem Chip im Dip.
„Wo ist mein Jordan?“ fragte Sebastian.
Seine Stimme war ruhig, aber in seinem Magen spannte sich etwas zusammen. Er hasste es, wie dünn sie klang.
Mehmet zog eine Augenbraue hoch. „Was für’n Jordan?“
„Der Jordan. Der hier lag.“
„Ach der“, sagte Ali betont langsam. „War im Weg, Digga. Haben den… äh…
sichergestellt.“
„Bruder, so kann man nicht einfach mit High-Fashion -Sneakern umgehen“, grinste Ilhan. „Einfach so rumstehen lassen. Die zieht dir noch jemand ab.“
Sebastian trat näher. „Wo ist er?“
Mehmet streckte die Hand aus. „Gib erstmal das Wechselgeld. Dann finden wir ihn vielleicht wieder.“
Sebastian starrte ihn an. „Ich hab das Bier selbst bezahlt.“
„Klar“, sagte Mehmet. „Aber wir haben dich geschickt. Also… mach mal locker.“
Ali grinste. „Zeig bisschen Liebe, Bruder. Wer Jordans für vier Scheine rockt, hat doch noch paar Münzen übrig.“
Sebastian fühlte, wie sich sein Gesicht langsam heiß zog. Er hatte kaum noch etwas bei sich – ein paar Münzen, ein alter Zweier. Er zog den Geldbeutel aus der Hosentasche. Zögerte.
Sie beobachteten ihn. Und wieder war es dieses Gefühl: Wenn er jetzt Nein sagte, würde es nicht bei Sprüchen bleiben.
Er öffnete den Geldbeutel. Holte sein restliches Geld raus – knapp fünf Euro – und legte es auf Mehmets ausgestreckte Handfläche. Die Münzen klirrten.
„Danke für den Service“, sagte Mehmet, als hätte er gerade ein Trinkgeld bekommen.
Sebastian schluckte. „Und… mein Schuh?“
Mehmet sah zu Ali. Dann zu Ilhan. Dann wieder zu Sebastian.
„Achso. Der“, sagte er locker. „Tja… keine Ahnung. Vielleicht wurde der ja geklaut, während du weg warst.“
Ali lachte. „Oder er ist allein zur Tanke hinterhergelaufen. Wär nicht der erste, der sich aus’m Staub macht.“
Er schob seine Füße unter den Tisch, als würde er den Schuh gerade verstecken – nur aus Spaß natürlich. Sebastian konnte nicht sehen, ob er log.
Dann zog Ilhan sein Handy aus der Tasche.
„Moment, den Moment müssen wir festhalten“, sagte er grinsend.
Er schwenkte die Kamera auf Sebastian, der da stand – nur mit einem Jordan am linken Fuß, der andere verschwunden, die nasse Socke am rechten.
„Das ist Insta-Material“, sagte Ilhan und machte ein Foto, das perfekt den Kontrast zeigte: ein teurer Schuh, ein Fuß in einer schmutzigen, ehemals weißen Socke daneben.
„Caption?“, fragte Ali, immer noch lachend.
„Wie wär’s mit: ‘Der Typ, der seine Schuhe verliert, aber immerhin das Bier bezahlt’?“ schlug Mehmet vor.
Die Jungs lachten laut. Sebastian blieb stumm, der Kloß im Hals wurde größer.
Er wusste, das Bild würde in den nächsten Tagen durch die Gruppe geistern. Als Mahnung.
Als Waffe. Als Beweis, dass er nie wirklich dazugehört hatte.
Und während Ilhan das Handy wegsteckte, wusste Sebastian: Diese Niederlage war mehr als nur ein verlorener Schuh.
Sie war eine öffentliche Demütigung.
Und sie tat weh.
Sebastian saß da, den Blick auf den Boden gerichtet, die Bierdosen vor sich auf dem
Tisch. Der fehlende Schuh fühlte sich an wie ein Schatten, der sich langsam auf seine
Stimmung legte.
Trotz allem wollte er sich nicht hängen lassen. Vielleicht kriege ich den Schuh ja zurück, dachte er sich immer wieder. Wenn ich mich jetzt brav verhalte, wenn ich keine Probleme mache, spätestens wenn das Spiel vorbei ist.
Ali grinste breit und tippte ihm leicht gegen die Schulter. „Ey, keine Sorge, Bruder. Dein Schuh chillt bestimmt irgendwo und wartet auf dich. Vielleicht kommt er ja zurück, wenn du uns endlich mal was richtig Cooles bringst.“
Mehmet lachte und schob die Bierdose vor Sebastians Nase hin und her. „Oder wenn du uns endlich mal zeigst, dass du auch ohne zweite Socke und Schuh klarkommst. Wird bestimmt lustig.“
Ilhan setzte sich neben Sebastian, legte ihm fast kumpelhaft den Arm auf die Schulter und zwinkerte ihm zu: „Bruder, mit einem Schuh bist du jetzt offiziell der King der Halbzeit. Den Rest kriegen wir schon hin.“
Jedes Mal, wenn sie lachten, spürte Sebastian, wie sich der Druck in seiner Brust verdichtete. Er zwang sich zu einem kleinen Lächeln, nickte zustimmend – und hoffte heimlich, dass die Geschichte mit dem Schuh bald ein Ende hätte.
Denn in seinem Inneren wusste er: Die Hoffnung war das Einzige, was ihm gerade noch blieb.
Warum passiert das mir? Was, wenn ich den Schuh nie zurückbekomme? Was, wenn sie mich jetzt für immer so sehen – als Opfer?
Seine Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten, als wollte er den Kloß in seiner Kehle festhalten. Die Luft schien plötzlich schwer und kühl.
Er spürte, wie seine Brust sich zusammenzog, wie ein Druck wuchs, der immer lauter wurde, aber niemand sah es. Niemand durfte es sehen.
„Ey, du bist ruhig heute“, bemerkte Ali lachend und schlug ihm erneut auf die Schulter. „Komm schon, du kannst ruhig ein bisschen mehr mit uns feiern.“ Es stand 2:0 für die Türkei.
Sebastian zwang sich zu einem halbherzigen Lächeln, nickte. Doch innerlich war er zerrissen.
Er hatte Angst. Angst davor, was als Nächstes kommen würde. Angst davor, endgültig zu verlieren, was ihm noch blieb: sein Stolz, seine Würde.
Ich darf nicht schwach sein, dachte er. Nicht jetzt. Nicht vor denen.
Doch je mehr er sich selbst einredete, stark zu sein, desto mehr fühlte er, wie die Angst sich wie ein Schatten über ihn legte –leise, aber beständig.
Und während das Spiel auf der Leinwand weiterlief, saß Sebastian da, gefangen zwischen dem Lachen der anderen und seinem eigenen, stillen Kampf.
Das Spiel lief, doch Sebastian konnte kaum hinsehen. Sein Blick schweifte immer wieder zum Platz, wo der zweite Jordan hätte stehen sollen, und seine Füße.
Er räusperte sich, sammelte all seinen Mut und stand auf.
„Ey, Ali… Mehmet… könnt ihr mir den Schuh bitte zurückgeben?“ Seine Stimme zitterte leise.
Ali grinste breit und lehnte sich zurück. „Wieso? Du brauchst den doch jetzt gerade nicht, oder?“
Mehmet schüttelte den Kopf und lachte spöttisch. „Na komm, Bruder, ein bisschen Mitleid hast du doch schon verdient. Aber so einfach kriegst du den nicht zurück.“
Sebastian schluckte, seine Hände fingen an zu zittern. „Bitte… meine neuen Jordans. Das ist echt nicht mehr lustig.“
Ali zuckte mit den Schultern. „Tja, dann warst du halt nicht schnell genug, dass du sie behalten kannst.“
„Bitte, ich geb euch was dafür“, flüsterte Sebastian und spürte, wie ihm die Verzweiflung die Stimme raubte. „Ich geb euch nächsten Montag fünf Euro, zehn, zwanzig, was ihr wollt.“
Mehmet schüttelte den Kopf und sah die anderen an. „Der Junge gibt sogar noch Geld dafür her, dass er seinen Schuh zurückkriegt. Läuft bei dir, Sebastian.“
„Ich will ihn nur zurückhaben, bitte“, sagte Sebastian und sah ihnen direkt in die Augen, versuchte, nicht wegzuschauen.
Ilhan grinste höhnisch: „Vielleicht findest du ihn ja noch, wenn du Glück hast.“
Sebastian senkte den Blick, seine Hoffnung schwand ein Stück mehr.
Er fühlte sich klein, ausgeliefert – und doch wagte er nicht, aufzugeben.
Denn ohne den Jordan war er hier nur noch ein Schatten. Und das durfte keiner sehen.
Das Spiel war vorbei, und das leise Gemurmel der Jungs füllte den Raum. Sebastian spürte, wie seine Geduld langsam zerbröckelte.
Er stand auf, räusperte sich und sagte klar: „Ich muss jetzt wirklich nach Hause. War ja alles total lustig hier, Jungs, aber ich will meinen Schuh jetzt zurück.“
Ali lachte spöttisch und schüttelte den Kopf. „Ach komm, sei kein Spielverderber. Noch’n bisschen bleiben und chillen, das passt schon.“
Mehmet grinste: „Ja, Sebastian, bleib noch. Der Schuh kommt schon wieder, keine Sorge.“
Aber Sebastian merkte, dass das nicht mehr nur ein Scherz war. Die Blicke, das Grinsen – es war nichts mehr Lustiges. Es war ein Spiel, bei dem er die Hauptfigur war – und sie entschieden, wie es endete.
Seine Wut stieg hoch, heiß und brennend. „Gebt mir den Schuh jetzt einfach zurück!“, sagte er lauter, die Stimme fest, aber die Hände zitterten.
Die Jungs lachten noch lauter. „Na klar, Bruder, jetzt wirst du aber frech!“
Da griff Ali in seinen Rucksack, zog den zweiten Jordan heraus – den Schuh, den Sebastian so verzweifelt vermisst hatte.
Aber anstatt ihn Sebastian zu geben, warf Ali den Schuh mit einem breiten Grinsen zu einem anderen Jungen, der ihn fing und sofort weiterwarf – zum nächsten, und so weiter. Wie ein Ball, der von einer Hand zur nächsten ging, über den Raum, weg von Sebastian.
„Ey!“, rief Sebastian und streckte die Hände aus. „Gebt mir meinen Schuh zurück! Bitte!“
Ali drehte sich zu ihm um, verschmitzt und kalt. „Willkommen im Club, Bruder. So läuft das hier.“
Sebastian fühlte, wie seine Wut sich mit Hilflosigkeit mischte. Keiner nahm ihn ernst.
Und keiner würde ihm helfen.
Und Sebastian stand da – allein, mit einem Schuh am Fuß und einer Wut, die nicht raus durfte.
Sebastian streckte die Arme aus, sprang vor, doch der Schuh flog immer weiter – von Hand zu Hand, weit weg von ihm.
„Gib mir bitte den Schuh zurück!“ rief er, seine Stimme brach vor Verzweiflung.
Doch bevor er näherkommen konnte, packten ihn zwei Jungs plötzlich am Oberarm und drückten ihn zurück.
„Bleib mal locker, Sebastian“, zischte Ali ihm ins Ohr, während Mehmet und Ilhan sich positionierten.
Sebastian wehrte sich, strampelte mit den Beinen, versuchte sich loszureißen. „Lasst mich los!“
Aber sie hielten ihn fest, seine Arme wurden von mehreren Händen ergriffen.
Und während er noch kämpfte, spürte er plötzlich, wie jemand sein Fußgelenk packte.
Mit einem Ruck zogen Ali und Mehmet ihm den zweiten Jordan vom Fuß.
Sebastian taumelte, sein Fuß lag plötzlich nackt auf dem kalten Boden, nur noch die Socke bedeckte ihn.
Die Jungs lachten laut.
„Jetzt bist du richtig blank, Bruder“, sagte Ali grinsend.
Sebastian sank auf den Hocker zurück, atmete schwer, die Wut und Hilflosigkeit brannten tief in ihm.
Er hatte nichts mehr.
Vor allem nicht seine Jordans.
Ali saß lässig auf dem Sofa, den zweiten Jordan fest in der Hand. Er drehte ihn langsam, betrachtete jede Linie, jedes Detail.
Sein Blick blieb an der Sohle hängen.
„Ey, schau mal“, sagte er und zeigte Sebastian die Unterseite des Sneakers, mit dem er zur Tanke gegangen war.
Die Sohle war nicht mehr so makellos sauber, wie die andere – sie war schmutziger, ein bisschen abgenutzter. „Digga, man sieht voll, dass die eine Sohle dreckiger ist als die andere, weil du mit dem Sneaker zur Tanke gelatscht bist.“
Sebastian schluckte schwer und sah zu Boden.
Ali lachte leise und fragte spöttisch:
„Was machen wir jetzt damit? Das sieht nicht so fresh aus.“
Er schaute Sebastian direkt an, herausfordernd, als wollte er sehen, wie der reagiert.
Sebastian hob den Blick, obwohl ihm das Herz bis zum Hals schlug. „Na…“, begann er zögernd, „man kann’s sauber machen. Die Sohlen putzen.“ Er versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen, obwohl sie leicht zitterte. „Und… ich pass halt besser auf, dass das nicht nochmal passiert.“
Seine Augen suchten Alis, suchten irgendein Anzeichen von Verständnis. Doch Ali grinste nur breit und nickte langsam. „Mal sehen, Bruder. Mal sehen.“
Ali beugte sich vor, sein Grinsen wurde breiter und noch fieser.
„Weißt du was, Sebastian? Wenn du so sehr darauf stehst, dass der Schuh wieder sauber wird… warum machst du’s dann nicht gleich hier?“
Er schaute Sebastian mit spöttischem Funkeln in den Augen an.
Sebastian schaute ihn verständnislos an. „Mit was soll ich das denn machen. Ich habe keine Bürste oder so. Soll ich sie vielleicht sauber lecken?“
Noch während er das aussprach, merkte Sebastian, dass er das besser nicht gesagt hätte.
Ein kurzes Schweigen – und dann brach die Gruppe in Johlen und lautes Lachen aus.
Sebastian spürte, wie ihm heiß und kalt wurde. Sein Herz hämmerte, der Druck stieg in seinem Hals.
Er sah sich um, die Blicke der Jungs brannten auf ihm.
Sebastian wich zurück, seine Stimme bebte, als er leise flehte:
„Hey, bitte… verlangt das nicht. Ich… ich will das nicht machen.“
Doch die anderen waren außer sich vor Gelächter und lauter geworden. „Leck die Sohle, Sebastian!“, riefen sie. „War doch dein eigener Vorschlag!“
Ali richtete sich auf, nahm den zweiten Jordan hielt ihn ihm vor die Nase. „Na los, Bruder. Die zweite Sohle wartet schon auf dich. Zeig uns, dass du wirklich Durchhaltevermögen hast.“
Sebastian wollte den Kopf schütteln, sich wehren, doch die Hände packten ihn erneut und hielten ihn fest.
Mit schwerem Herz und einem letzten, verzweifelten Blick auf seine Freunde, die er längst nicht mehr so nennen konnte, streckte er die Zunge erneut heraus.
Ali strich die zweite, etwas sauberere Sohle langsam über Sebastians Zunge, während dieser mit geschlossenen Augen schluchzte — hilflos, gebrochen, und von Angst gefangen.
Sein ganzer Körper bebte, und in diesem Moment fühlte er sich kleiner als je zuvor. Ein Schatten, der nichts mehr besaß — nicht mal seine Schuhe, nicht mal seinen Stolz. Seine Zähne knirschten, der feine Dreck der Straße verteilte sich in seinem Mund, er versuchte ihn herunterzuschlucken, so wie er versuchte die Demütigung herunterzuschlucken.
Sebastian saß noch immer da, die Tränen hatten seine Wangen längst nass gemacht, doch er spürte sie kaum noch. Sein Herz war schwer wie Blei, und der bittere Geschmack auf seiner Zunge schien sich tief in seine Seele zu graben.
In seinem Kopf war nur ein einziger Gedanke: Wie konnte das alles passieren? Wie war er hierher gekommen, an diesen Punkt, an dem ihn die Jungs, die er einst als Freunde gesehen hatte, so gnadenlos zerstörten?
Seine Hände zitterten, sein Körper fühlte sich taub an, als wäre er nicht mehr wirklich da. Er fragte sich, ob er je wieder jemanden würde vertrauen können – ob er jemals wieder jemandem zeigen könnte, wer er wirklich war, ohne Angst zu haben, ausgelacht und verletzt zu werden.
Die Jordans, die einst ein Symbol für Stolz und Freude waren, hatten sich verwandelt in Ketten, die ihn fesselten.
Sebastian atmete tief durch, obwohl sein Körper noch zitterte. Die Tränen liefen ihm die Wangen hinunter, doch in seinem Inneren keimte eine Entschlossenheit auf. Ich muss hier weg. Jetzt. So schnell wie möglich.
oder?“ Ali grinste gemein. „Aber wenn du was dagegen hast, sie mir auszuleihen, sag es einfach. Du kriegst sie zurück, aber bevor du gehen darfst, musst du alle weiteren Sneakersohlen hier lecken.“
Die anderen Jungs grölten los, während Sebastian fassungslos zusah, wie Ali seine Schuhe trug.
Sebastian spürte, wie Wut und Verzweiflung in ihm aufstiegen. Doch gleichzeitig wusste er, dass der beste Weg jetzt war, zu verschwinden, sich nicht noch tiefer in ihre Hände zu begeben. Er wollte nicht noch weitere Sneakersohlen ablecken, sich noch tiefer erniedrigen.
Sebastian blickte Ali lange an, die Verzweiflung in seinen Augen spiegelte sich in
seinem schweren Atem wider.
Er schluckte und nickte langsam, ohne ein Wort zu verlieren.
„Okay“, sagte er leise, die Stimme brüchig und müde. „Du kannst dir die Jordans ausleihen.“ Sebastian wusste, wie das lief. Er würde sie bestenfalls zurückbekommen, wenn sie total abgerockt waren. Sie hatten ihm die Jordans tatsächlich abgezogen, die Nummer mit der Ausleihe war nur für den Fall, dass Sebastian so dumm wäre, den Raub bei der Polizei anzuzeigen.
Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht, während Ali triumphierend grinste.
Sebastian fühlte, wie ihm die Kraft wich, er resignierte.
Sebastian stand langsam auf, seine Schultern schwer und der Blick gesenkt. Die Stimmen der Jungs, das Lachen und die spöttischen Bemerkungen klangen wie ein dumpfes Dröhnen in seinen Ohren, während er zur Tür ging.
Wie konnte das nur so eskalieren? dachte er bitter. Wegen ein paar Schuhen… Ich hab mich so gefreut, war so stolz und glücklich. Und jetzt… schau mich an. Wie ein Witz. So richtig abgezogen und gedemütigt.
Sein Herz fühlte sich schwer an, als würde eine Last auf ihm liegen, die er nicht abschütteln konnte. Waren die Jordans das wirklich wert gewesen? War der Stolz es wert, so tief zu fallen?
Mit jedem Schritt nach draußen spürte er die Blicke der Jungs auf seinem Rücken brennen. Doch in ihm wuchs auch der Wunsch, es nicht nochmal so weit kommen zu lassen. Irgendwann muss ich stark genug sein. Aber nicht heute.
Draußen nahm er einen tiefen Atemzug, die kalte Luft fühlte sich an wie ein schwacher Neuanfang – so klein er auch war. Dann ging er weinend auf seinen weißen Socken nachhause.
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Autor: Sebastian
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2 Antworten
Hi Sebastian, hoffe auch auf eine Fortsetzung wenn es geht etwas härter. Vielleicht machen die anderen auch die Sneaker ganz langsam genûßlich kaputt oder zerstören sie.
Super geschrieben die Story. Hoffe auf eine Fortsetzung 🙂